Im folgenden ein Abschnitt aus dem Scriptum „Die Wolke des Nichtwissens“ – es handelt sich um einen Text eines Erleuchteten aus dem 14. Jahrhundert – zum Thema Hauptsünden.
„…Wenn aber dies Verhaftetsein des fleischlichen Herzens mit den Empfindungen des Gelüstens oder Widerwillens lange ungehindert andauern darf, dann entsteht daraus zuletzt mit deiner vollen Zustimmung eine Verbindung mit dem geistigen Herzen, welches gleichbedeutend mit deinem Willen ist, und daraus folgen die Hauptsünden.
Und dies geschieht, wenn du oder einer jener Leute, von denen ich spreche, willentlich die Erinnerung an einen Mann oder eine Frau bzw. an irgend etwas Materielles oder Weltliches heraufbeschwören.
Wenn es sich dann um Personen oder Dinge handelt, die dich bekümmern oder vielleicht bekümmert haben, dann erwächst in dir eine leidenschaftliche Wut und ein Verlangen nach Rache, was man Zorn nennt.
Oder aber es entsteht grausame Verachtung und Abscheu gegen die Personen, an die du dich erinnerst, begleitet von böswilligen und missbilligenden Gedanken, was man Neid nennt.
Oder es ergreift dich eine Schlaffheit, eine Unlust zu irgendeiner guten, körperlichen oder geistigen Tätigkeit, und dies nennt man Trägheit.
Wenn es aber etwas ist, das dir gefällt oder einst gefiel, dann bereitet dir der Gedanke daran, was immer es auch sei, einen übermässigen Genuss, der so gross ist, dass du bei diesem Gedanken verweilst und schliesslich dein Herz und deinen Willen daran hängst und deine leiblichen Sinne damit nährst, so dass du in diesem Zustand nach keinem anderen Besitz verlangst und dir nur wünschst, stets in zufriedener Ruhe mit jenem Objekt leben zu können, an das du denkst. Bezieht sich dieser Gedanke, den du solchermassen heraufbeschwörst bzw. aufnimmst, sobald er sich bei dir einstellt, und bei dem du mit grossem Entzücken verweilst, auf die Grösse deiner natürlichen Veranlagung, deines scharfsinnigen Verstandes, der erlangten Gnade oder auf denen Stand, deine äussere Erscheinung und Schöhnheit, so ist dies der Stolz.
Wenn er sich auf weltliche Güter, Reichtümer, den Viehbestand oder was sonst der Mensch alles haben oder worüber er Herr sein kann, bezieht, dann ist das Habgier.
Wenn das Denken auf erlesene Speisen oder Getränke oder irgendeine Gaumenfreude gerichtet ist, dann ist dies die Hauptsünde der Unmässigkeit;
und wenn es sich mit Liebeslust, sinnlichen Vergnügungen oder mit anzüglicher Unterhaltung, mit Schmeichelei oder Koketterie eines Mannes oder einer Frau befasst, dann ist es die Unkeuschheit.
(Kapitel 11)
Ich sage das nicht etwa, weil ich glaube, dass du oder irgendein anderer, von denen ich spreche, schuldig seien und derartige Sünden auf sich geladen hätten, sondern weil ich möchte, dass du jeden Gedanken und jede Regung daraufhin überprüfst, was sie sind und dich eifrig bemühst, schon die erste Regung und den ersten Gedanken an Dinge, die dich zur Sünde verleiten können, zu vernichten.“